Wer kennt es nicht: Deutschunterricht oder Kunstunterricht, man wird mit irgendeinem Werk konfrontiert, und dann dieser allesvernichtende Todessatz der Lehrkraft: “Was will uns der Künstler damit sagen?” Ja was will er sagen? Und warum um Himmels Willen sagt er es so umständlich und packt uns lauter versteckte Bedeutungen rein, die wir in lebhafter Unterrichtsbeteiligung gefälligst entschlüsseln sollen, anstatt es uns halt geradeaus mitzuteilen? Ich habe das lange nicht verstanden, und hatte auch lange keine Lust, Gedichte oder was auch immer zu interpretieren, weil was sollte das überhaupt, interpretieren? Ist Kunstkonsum eine Pflichtübung, für die es Noten gibt? Sind Museen Paketübergabestationen, in denen gut verpackte Bedeutung ankommt und wir zahlen Eintritt, um den ganzen Quatsch wieder auszupacken und ab und zu finden wir einen mageren Sinn, den wir mit nach Hause nehmen dürfen?
Antworten auf all meine Fragen (die, wie ich inzwischen weiß, total berechtigt waren) bekam ich in der Schule nicht. Weil das mit dem Künstler, der etwas auszudrücken versucht und es dann so umständlich tut, daß er es allen damit schwermacht, nicht stimmt. Weil die Frage danach, was der Künstler sagen will, falsch gestellt ist. Aber es dauerte lange, bis ich das verstanden habe.
Also ja, es gibt durchaus auch Künstler, die etwas sagen wollen, aber das sind die langweiligeren. Die interessanteren gehen die Sache anders an. Die denken sich nicht aktiv irgendwas dabei, die wollen auch nichts sagen, sondern die fragen selbst. Die treibt etwas um, und die Antwort ist nicht so einfach, daß man sie auf einen Zettel schreiben und dem geneigten Publikum auch einfach mitteilen könnte. Die interessanteren Künstler verbeißen sich in ein Thema, und stellen fest, daß es komplex ist und alles nicht so einfach. Deshalb kann man die Frage, was sie sagen wollen, auch nicht so leicht beantworten, und das können sie meist auch selbst nicht.
Frankfurt mit dreierlei Licht: Alles nicht so eindeutig. Vor allem habe ich noch keine Ahnung, wo ich mit diesem Bild eigentlich hinwill, aber irgendwas mag ich daran.
Und wenn man die Frage nach dem Inhalt von Kunst leicht beantworten würde (“Seerosen sind schön”, “Ich träume oft von verzerrten Elefanten” oder, um das gesamte 17. Jahrhundert in den Niederlanden zusammenzufassen: “Lebensmittel sind total ästhetisch”), dann bekommt man den Großteil nicht mit und wird der Sache auch nicht gerecht.
So, und was hat das nun mit uns zu tun?
Spätestens, wenn man auf Websites oder für Ausstellungen einen Text über die eigenen Fotos schreiben soll, ist man ja mit der Frage konfrontiert: Was sagen meine Fotos eigentlich? Oder auch dann, wenn man Projekte angehen will: Was interessiert mich so sehr, dass ich mich damit länger beschäftigen will? Was treibt mich um? Welche Frage an die Welt habe ich selbst eigentlich? Wie fasse ich das zusammen, ohne mühsamen Quatsch zu schreiben?
Fragen an die Welt, und ich glaube das gilt universell, geben immer bessere Kunstwerke ab als Botschaften an die Welt. (Achtung, bitte merken, das ist mir sehr wichtig.)
Deshalb geht diese Lehrerhorrorfrage nach dem, was uns der Künstler damit sagen will, auch so dermaßen an der Sache vorbei. “Uns etwas sagen” ist etwas fundamental anderes, als sich mit einer Sache zu beschäftigen, manchmal ein Leben lang, sie immer wieder von verschiedenen Seiten anzuschauen und das Positive und das Negative darin zu suchen, das Widersprüchliche, das Ernste und das Humorvolle. Martin Parr zum Beispiel treibt die Frage um, wie Menschen ihre Freizeit verbringen, was manchmal fürchterlich aussieht, aber ihnen Freude bereitet, was oft humorvoll wirkt, aber eben auch damit zu tun hat, was Menschen sich überhaupt leisten können. Das ist eine ziemlich komplexe Frage, und sie ist offenbar nach Jahrzehnten immer noch nicht beantwortet. Oft stoßen die Widersprüche in einem Bild zusammen, etwa Armut und Schönheit. Oder das Artifizielle und das Authentische.
Abgang zur Tiefgarage im Park, von Workshop-Teilnehmern liebevoll als “Tor zur Hölle” bezeichnet. Liegt da womöglich etwas Sinistres in diesem schönen Sommertag?
Ich habe in den letzten Monaten sehr oft meine Bilder angeschaut und ausdrucken lassen, habe sie herumgeschoben und darauf herumgedacht. Ich glaube, daß man dann Bilder findet, die widersprüchlich sind, die herausstechen, die irgendeine Frage aufwerfen. Und die gilt es zu finden. An denen kann man sich entlanghangeln, denn offene Fragen sind immer ein guter Ausgangspunkt für beginnende Prozesse einer fruchtbaren Auseinandersetzung.
Fragen zu finden, ist wichtiger, als Antworten zu finden. Ich wünschte, auch das bekäme man in der Schule öfter beigebracht, wo es immer darum geht, alles durchzuerklären. Aber die Welt lässt sich nicht restlos durcherklären. Auch Fotos oder Gedichte lassen sich nicht durcherklären. Man kann sich immer nur annähern, und oft bleibt ein Rest Geheimnis. Aber genau dieses Geheimnis macht die Sache so spannend. Irgendwann finde ich vielleicht heraus, was ich an dem ersten Bild oben mit dem lila Himmel mag – das war letzte Woche in Frankfurt, das ist noch zu frisch, um ihm auf den Grund gekommen zu sein. Aber da ist irgendwas, da steckt eine Frage drin, ich weiß nur noch nicht welche.
(Was die Künstlerin mit diesem Newsletter sagen wollte, ist im Gegensatz dazu aber hoffentlich eindeutig.)
Links
Ich habe jetzt ein Probeabo von The Darkroom Rumour, einer Art Netflix für Fotografie-Dokumentationen. Das ist so dermaßen nischig, daß ich dachte, das darf ja fast nicht wahr sein, daß es sowas gibt. Ungefähr ein Dutzend der Dokus beschäftigen sich mit im weiteren Sinne Street-Fotografie, “In no great Hurry” über Saul Leiter ist etwa dabei und die Doku über Harry Gruyaert, die immer mal bei arte läuft. Daneben auch etliches über andere Genre, über Fotokünstler mit exotischen Prozessen oder über Fotojournalismus. Ich beobachte mal, was da so in welchem Rhythmus dazukommt, und erstatte Bericht. Die kostenlose Probezeit dauert 7 Tage, also wenn ihr mal Zeit habt und das Fernsehen leer geguckt ist, lohnt sich das allemal.
Das Flickr-Revival kommt! Ihr habt es hier zuerst gelesen. Und dann erst bei F-Stoppers.
Wie lustig ist das bitte: Wie sich ChatGPT einen street photographer vorstellt.
Terminkalender
2. März: Fassenachts-Fotowalk mit Collateral Eyes in Mainz. Treffpunkt um 12.11 Uhr am Hopfengarten 1.
bis 3. März: Deutschland 1980. Fotografien aus einem fernen Land. Altonaer Museum, Hamburg
22. März: Photowalk mit dem Street Collective Hamburg. 11 Uhr am U-Bahnhof Feldstraße.
bis 20. April: Saul Leiter: An unfinished World. Foam Fotografiemuseum Amsterdam.
bis 27. April: Sachlich neu. Fotografien von August Sander, Albert Renger-Patzsch und Robert Häusser. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
28. Februar bis 4. Mai: Ein Dorf 1950–2022: Ute Mahler, Werner Mahler, Ludwig Schirmer. Akademie der Künste Berlin
3. bis 13. April: Ausstellung des 24hour-Project, TBD Hamburg, Ehrenbergstraße 25 (bis 3. März kann man sich noch bewerben!)
bis 4. Mai: “Perception, Passion and Pain”. Fotos von Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca DiCorcia, aus der Sammlung F.C. Gundlach. Deichtorhallen Hamburg
9./10. Mai bis 21. Juni: save the date! Collateral Eyes stellen was aus, und es wird mega. (Zu Vernissage und Finissage könnte sich ein Abstecher nach Frankfurt lohnen.)
21. Februar bis 1. Juni: “Die Magie der Straße. Meisterwerke der Street Photography aus dem Leica-Archiv”. Ernst-Leitz-Museum, Wetzlar
bis 15. Juni: Robert Lebeck, “Hierzulande”. Opel-Villen Rüsselsheim
3. Mai bis 12. Oktober: Street Photography. Lee Friedlander, Garry Winogrand, Joseph Rodríguez. Museum Ludwig Köln
24. Mai bis 7. September: “I’m So Happy You Are Here: Japanese Women Photographers from the 1950s to Now”, Fotografie Forum Frankfurt
😀 Sehr schön Andrea, hat mich amüsiert, vor allem gleich mit einem laaangen Rückblick zu starten an die Schulzeit... Was will er und bitte interpretiert... Ja ja ja und dann hast du aus deinem genialen künstlerischen Inneren etwas hervorgebracht, welches jeden übervorderte und nicht dem allgemeinen Gusto entsprach und "Bam" das wars 🙄😵💫 Mit der Fotografie ist das "fast" genauso, Erwartungen erfüllen, nur für sich selbst und andere überzeugen und mitnehmen.
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