Momentan haben einige keinen Bock. Und reden dann auch noch darüber. Okay. Das klingt dann allerdings immer etwas komplizierter: keine Inspiration, Street gerade eh irgendwie langweilig geworden, Street immer das gleiche, Street seelenlos, jawoll: seelenlos. Okay. (Was sich hinter den Links verbirgt ist oft ein wenig komplexer, to be fair.)
Ich wage hier jetzt mal eine These: Daß jemand keinen Bock hat, ist zuallerletzt die Schuld der Streetfotografie auf nationaler oder internationaler Ebene. Es ist auch nicht die Schuld irgendwelcher Juroren, die tatsächlich ziemlich oft das auszeichnen, was halt irgendwie gut geht, was am Ende aber ziemlich oft ziemlich gleich aussieht. Das ist ein Ärgernis, hat aber nichts mit persönlicher Motivation zu tun. Und es ist auch nicht allein die Schuld von Instagram, wenn jemand den ganzen Quatsch hinschmeißt. Meistens hat es überhaupt ziemlich wenig mit Schuld zu tun, sondern mit individuellen Lernkurven. Ich habe inzwischen einige Lernkurven absolviert und gehe sie daher recht gelassen an. Nun möchte ich Euch zu ein wenig Gelassenheit im Angesichts des Frusts ermuntern, falls ihr das gerade nötig habt. Wenn nicht, könnt ihr die Mail auch speichern und bei Bedarf hervorholen :)
Also: Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Immer, wenn man denkt, man hat alles erreicht und kann die Sache nun einigermaßen überblicken, tut sich ein neuer Berg vor einem auf. Ächz!
Kunst, oder überhaupt das Lernen von Fertigkeiten, ist eine Art Bergwanderung im Nebel: Man wähnt sich dem Ziel ganz nah, aber das ist immer eine Fehleinschätzung, weil man das Ziel überhaupt nicht sieht. Und nur, wer schon etwas weiter gelaufen ist, bekommt langsam eine Art Demut vor der Unüberschaubarkeit des Geländes. (Man nennt das auch den Dunning-Kruger-Effekt, ihr kennt ihn ja sicher.)
Zum Lernen gehören nicht nur Anstiege, sondern auch Plateaus, auf denen sich vermeintlich gar nichts tut. Ich habe in der ersten Jahreshälfte einen ziemlichen Gewaltmarsch hingelegt, nun, in der zweiten Jahreshälfte, geht mir ein bißchen die Puste aus. Und das ist total normal. Man muß ja auch mal die Dinge sacken lassen, muß sich mit Anderem beschäftigen, einen Abstand zur eigenen Arbeit gewinnen. Auf diesen Plateaus passiert scheinbar nichts, aber eben doch ganz viel. Man sammelt Puste für die nächste Etappe, sitzt vielleicht auf einer Bank rum und schaut zurück, was man alles schon geschafft hat.
Und man schaut sich an, was andere so zusammenknipsen und was man eben noch supergut fand und denkt, boah, wie öde. Man schaut sich manchmal auch seinen eigenen Kram an und denkt, puh, was mach ich hier eigentlich. Auch das ist total normal. Das gehört zum Prozess, das ist ein Zeichen für Wachstum. Wirklich. Man sollte sich davon um Himmels Willen nicht beirren lassen.
Es gibt ein paar Tricks, in solchen Phasen nicht die Nerven zu verlieren. Erstens: Aufgeben ist für Loser. Wer hinschmeißt, hat schon verloren.
Zweitens: Mal was ganz anderes machen. Ich interessiere mich immer abwechselnd für Bild und Text, und wenn es mit dem einen gerade nicht hinhaut, kommt mir das andere gerade recht. Andere spielen Gitarre oder tanzen Tango, auch gut.
Drittens: Nicht denken, daß man eh schon alles kann. Man sollte sich grundsätzlich nie am Mittelmaß messen, sondern immer an den eigenen Vorbildern. Das bringt Perspektive in die Sache. (Klar bist Du schon weiter, als die, die gerade erst losgelaufen sind. Aber heißt das, daß Du wirklich schon weit bist?)
Viertens: Sich mit dem beschäftigen, was man bisher nicht so richtig kapiert hat oder eigentlich nicht mag. Da steckt manchmal was Interessantes drin, auch wenn es aus der Komfortzone herausführt. Und das ist jetzt wirklich ein total wichtiger Tip. Man kann sich ewig darin verschanzen, nur schwarzweiße Schatten zu fotografieren oder über Technik zu labern. Man fällt leicht in etwas rein, was halt so flutscht, und vergisst darüber alles andere. Aber auch Wanderer, die hauptsächlich ihre Beine benutzen, müssen mal die Schultern trainieren, sonst wird die Sache einseitig.
Fünftens: Sich selbst beauftragen. Es hilft mir total, mir ein Projekt vorzunehmen, weil ich dann nicht durch die Landschaft irre, sondern mir Etappenziele setze. Ich habe Themen, die ich bearbeite. Ich fange irgendwo an, dann nehme ich mir gezielt Zeit, um entsprechende Orte aufzusuchen (irgendein Markt, Dippemess, etc). Manchmal beauftrage ich mich, an einem bestimmten Tag wohin zu fahren, wo es mir vielversprechend erscheint. Wem es an Themen mangelt oder wenn ihr keine Idee habt: Holt Euch Feedback. Irgendwo in Euren Bildern ist eine Abzweigung, ein vielversprechender Funke, den ihr bisher übersehen habt und den zu verfolgen sich lohnt. Fragt bei Workshops gezielt danach. Es ist keine Schande, nach dem Weg zu fragen, wenn da gerade kein Wegweiser steht.
Wenn also wieder einmal die Lage im Großen und Ganzen betrauert wird, denk ich: Schaut euch doch mal um. Schaut euch gründlicher um! Folgt halt auf Insta mal anderen Leuten, nicht nur der üblichen Bubble, die sich gegenseitig in Podcasts interviewt. Sucht halt mal die Ränder, da ist total viel los. In Büchern ist übrigens auch viel los. Man kann Street auch ganz anders machen, auf völlig überraschende Weise, wie du gerade noch nicht zu träumen wagst. Such danach. Gibt es etwas, was nur du erzählen kannst? Erzähl es, sonst tut es keiner.
Links
Wie wär’s mal mit Blitzen? Samuel hat’s probiert.
Terminkalender
6. September bis 24. November: Sabine Weiss, Freiraum für Fotografie Berlin
Doppelaufschlag Martin Parr: Ab 13. September “Early Works” im Fotografie Forum Frankfurt und ab 14. September "Martin Parr in Colour” in der Frankfurter Leica-Galerie. Beide Ausstellungen laufen bis 5. Januar 2025.
26. Oktober bis 21. Dezember: “All Paris in a Frame”, infocus Galerie Köln
bis 5. Januar2025: Robert Frank – Be happy. Museum Folkwang Essen
15. November bis 23. Februar 2025: Stern-Reportagen von Marie-Claude Deffarge & Gordian Troeller, Museum Folkwang, Essen
bis 27. April 2025: Sachlich neu. Fotografien von August Sander, Albert Renger-Patzsch und Robert Häusser. Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim
12. Dezember bis 4. Mai 2025: “Perception, Passion and Pain”. Fotos von Nan Goldin, David Armstrong, Mark Morrisroe und Philip-Lorca DiCorcia, aus der Sammlung F.C. Gundlach. Deichtorhallen Hamburg.
Toller Newsletter. Bin via Unposed auf dich aufmerksam geworden. Naja. Eigentlich folg ich dir schon ne Weile. Hab‘s nur nicht in Zusammenhang bekommen. Werd mich hier jetzt mal bissl durch lesen. Danke für deine Arbeit. LG aus dem Süden.
Danke für diesen Beitrag und deine deutlichen Worte. Du hast recht 😊